Das Schlagwort „Books in Browsers“ macht in der eBook-Welt bereits seit einigen Jahren die Runde: eBook-Content direkt im Browser zu lesen, liegt natürlich schon insofern nahe, als EPUB letztlich auch nur ein Container-Format für Content in HTML und CSS ist. Das machen schon Browser-Plugins wie EPUBReader und Readium deutlich, mit denen EPUB-Dateien in Browsern wie Firefox oder Chrome gelesen werden können. Anwendungen für Bücher im Browser setzen dieses Modell noch konsequenter um, verzichten gänzlich auf einen eigenen EPUB-Reader und stellen die Inhalte ausschließlich über eine serverbasierte Web-Applikation zur Verfügung.
In den letzten Monaten hat das Thema weiter an Fahrt gewonnen: Das IPDF als Standardisierungs-Organisation für EPUB und das W3C als Schirmherr über die Web-Technologien haben ihren Zusammenschluss verkündet und treiben die Diskussion über Bücher im Browser an. Schon seit einigen Jahren gibt es spannende Fallbeispiele für browserbasierte Buch-Umsetzungen, sowohl international als auch in Deutschland. Zeit für einen Rück- und Vorausblick: Welche Möglichkeiten bieten browserbasierte Anwendungen? Was lässt sich von bisherigen Fallbeispielen lernen? Wo liegen die Herausforderungen? Und was wird jetzt eigentlich aus den eReadern?
Die Chancen des Modells „Bücher im Browser“ für Verlage und Content-Anbieter
Bücher im Browser bieten gegenüber der Distribution als EPUB-Datei zunächst einmal eine Reihe von technischen Vorteilen: Innerhalb von EPUB wird ja nur eine vergleichsweise kleine Teilmenge dessen implementiert, was an Mediengestaltung mit modernen Webtechnologien heute in einem Browser möglich ist. Zudem ist in den letzten Jahren die Abhängigkeit von Funktionen proprietärer Leseanwendungen der großen eBook-Anbieter immer schmerzlicher spürbar geworden. Nicht Standard-konforme CSS-Implementierungen sorgen für erhebliche Probleme bei Layout und Gestaltung von eBooks. Und nach wie vor stoßen anspruchsvolle Projekte regelmässig an die funktionalen Grenzen von Anwendungen wie Apple iBooks, Adobe Digital Editions, Amazon Kindle oder den Tolino-Apps.
Was können Browser besser als eBooks?
Für Content-Anbieter bieten moderne Web-Browser als Leseanwendung erhebliche Vorteile für die Gestaltung des Content und die Realisierung von Funktionen. Und das gilt bereits für die technische Umsetzung von Buch-Inhalten:
- Der Einsatz von Gestaltungselementen der Web-Typografie, von Web-Fonts und Javascript-Bibliotheken für automatisierte Textgestaltung und Darstellungsoptimierung ist im Browser ohne zusätzliche Implementierung möglich.
- Responsive Layouts, die Anpassung der Gestaltung für jedes denkbare Endgerät, aber auch barrierefreie Zugänge lassen sich mit einer Vielzahl von quelloffenen Standard-Bibliotheken realisieren. Das Beispiel „Pelican Books“ zeigt noch dazu, wie sich auch anspruchsvolle Content-Formate auf hohem gestalterischem Niveau responsiv umsetzen lassen.
- Die Einbindung von Multimedia-Inhalten und die Realisierung interaktiver und dynamischer Content-Formate kann mit nativen Features von HTML, CSS und Javascript erfolgen. Welche Vorteile dies für bestimmte Inhalte haben kann, macht das Fallbeispiel O’Reilly Atlas deutlich.
Das eBook als Objekt im Netz – mit allen Möglichkeiten
Auch für die Vermarktung und Vernetzung von Buchinhalten bieten Bücher im Browser im Vergleich zu reinen Container-Formaten wie EPUB sehr viel bessere Möglichkeiten:
- Der Übergang vom eigenen Content-Angebot zu Inhalten von Drittanbietern ist ohne Medienbruch denkbar, Buch-Content könnte mit direkt im Browser ausführbaren Link-Bibliotheken ausgeliefert und sogar dynamisch aktualisiert werden.
- Direkte Übergänge in soziale Netzwerke sind möglich, Social Sharing bedarf keiner eigenen technischen Maßnahmen, Buchinhalte können direkt verlinkt und mit persistenten URI’s versehen werden. Besonders deutlich wird dies in Anwendungen wie Sobooks und log.os und ihrer Mischung aus eBook-Modell und sozialem Netzwerk.
- Buchinhalte können direkt zur Indexierung für Suchmaschinen zur Verfügung gestellt werden, für SEO-Maßnahmen steht somit auch der Content des Produktes zur Verfügung.
Daneben eröffnen browserbasierte eBook-Angebote mit Umsetzung unter Hoheit des Verlages gegenüber der Distribution über die großen eBook-Marktplätze Möglichkeiten für Direktvertriebs-Modelle, die über einen schlichten Datei-Download im eigenen Online-Shop weit hinausgehen:
- Über die Käuferdaten hinaus besitzt der Anbieter so alle Möglichkeiten des direkten Kundenkontaktes mit „eingebautem Rückkanal“, von individualisierten Angeboten bis hin zu personalisierten Inhalten und Wegen für Upselling/Cross-Selling. Besonders gut deutlich wird dies am Beispiel von „Learning version control with GIT“.
- Nutzerstatistiken und Leserdaten lassen sich in eigenen Analytics-Umgebungen auswerten und für die Optimierung von Inhalten und Angebotsmodellen verwenden.
Für die Content-Distribution wären Anbieter so technologisch und vertrieblich nicht mehr unbedingt auf die Apples und Amazons der Welt angewiesen. Nur gilt hier wie bei allen Direktvertriebs-Modellen natürlich: Der Anbieter kann alle Geschäfts- und Vertriebsmodelle in eigener Regie definieren – muss dies aber auch komplett selbst umsetzen. Ohne eine solide eCommerce-Infrastruktur im Backend werden sich die Vorteile dieses Modells insofern nur schwer realisieren lassen.
Insgesamt ließe sich durch Realisierung von „Books in browsers“-Modellen die Abhängigkeit von den großen eBook-Shop-Anbietern ein ganzes Stück weit verringern – vorausgesetzt natürlich, die Angebote sind entsprechend kundenorientiert aufgebaut, die technischen Möglichkeiten werden mediengerecht eingesetzt und die Umsetzung schafft einen echten Mehrwert, der mit statischen eBook-Inhalten so nicht zu erreichen ist.
Fallbeispiele für Books-in-Browsers-Modelle
Obwohl Bücher im Browser aktuell noch zu den eher innovativen und experimentellen Publishing-Modellen gehören, gibt es eine ganze Reihe von spannenden Fallbeispielen dazu – sowohl aus Deutschland, als auch international:
Pelican Books
Mit den „Pelican Books“ realisiert Penguin ein Modell für eine browserbasierte Reihe populärer Sachbücher. Bemerkenswerte Elemente der Umsetzung:
- Konsequent umgesetztes responsives Design, Optimierung von Darstellung und Funktionen für Mobilgeräte
- Einsatz moderner Webtypografie für das Layout der Texte, mediengerechte Umsetzung von Textelementen wie Fussnoten, Glossar und Verlinkungen
- Einbindung komplexer Inhalte wie Landkarten, Diagrammen und Zeitlinien auf hohem gestalterischen Niveau
Der Kunde erwirbt bei Pelican Books den Zugang zu einzelnen Titeln per einmaliger Zahlung. Für Penguin ist die Umsetzung ein Versuchsballon für die Kundenakzeptanz eines reinen Web-Zugangs zu Content. Nach juristischen Problemen mit den Verwertungsrechten für die Inhalte wurde der Zugang über geobasierte IP-Filter auf Kunden im UK eingeschränkt.
O‘Reilly Atlas
Mit den unter O’Reilly Atlas verfügbaren Titeln realisiert O’Reilly eine Reihe von buchbegleitenden Online-Plattformen. Der IT-Verlag nimmt sich hier vor allem der Probleme an, die für den Leser bei Quellcode in verschiedenen Programmiersprachen entstehen:
- Neben dem Text des Buches sind hier auch alle Quellcode-Beispiele enthalten und können per Copy & Paste in die jeweilige Entwicklungsumgebung des Nutzers übertragen werden (und müssen nicht mehr abgetippt werden).
- In der Web-Anwendung sind daneben interaktive Javascript-Widgets für die Quellcode-Beispiele enthalten: darin kann der Nutzer den Code von HTML, CSS und Javascript selbst anpassen und direkt im Browser testen, welche Auswirkungen dies hat.
Die Online-Ergänzungen haben kein eigenständiges Monetarisierungsmodell, sie sind vielmehr als Aufwertung der Buchtitel mit Mehrwert-Funktionen gedacht. Auf Basis derselben Technologien wurden mittlerweile in Zusammenarbeit mit Safari Books Online die „O’Reilly Oriole Online Tutorials“ als eigenständiges Content-Format realisiert und als Online-Trainings verkauft.
„Learn version control with GIT“
In diesem Fallbeispiel für ein Online-Tutorial aus dem IT-Bereich sind vor allem dynamische Content-Darstellungen realisiert:
- Integration von ausführbaren Quellcode-Beispielen und Flussdiagrammen
- Umschaltmöglichkeit zwischen verschiedenen Content-Varianten für verschiedene Anwendungsfälle derselben Inhalte
- Umschaltmöglichkeit zwischen Textversionen in Englisch und Chinesisch im selben Produkt
Das Produkt wird kostenlos online angeboten und dient als Content-Marketing-/Upselling-Channel für kostenpflichtige eBooks, Video-Trainings, Präsenz-Trainings und Software-Lizenzen.
Frank Chimero: „The shape of design“
Der Designer und Gestalter Frank Chimero hat in diesem Projekt seinen Entwicklungsweg zwischen klassischem Print-Layouter und Usability-Designer von Digital-Produkten festgehalten. Das Produkt ist ein typisches Beispiel für ein Selfpublishing-Projekt unter Umgehung bzw. Umkehrung der klassischen Wertschöpfungkette eines Verlages:
- Schreibprozess, Projekt und erste Print-Auflage wurden über ein Crowdfunding-Projekt finanziert
- Print-Produkt und eBook werden rein über Amazon vertrieben (das Print-Produkt über POD) und darüber nochmals direkt monetarisiert
- Neben den zwei Korpus-Produkten Print-Produkt und eBook steht parallel eine frei zugängliche Web-Ausgabe ohne Bezahlschranke
Das Produkt ist dabei nicht nur interessant wegen seines innovativen und dennoch erfolgreichen Geschäftsmodells, sondern auch wegen seiner in jeder Medienform auf ihre eigene Weise detailverliebten und handwerklich hochkarätigen Gestaltung.
log.os
log.os hat das Ziel, sowohl einen vollwertigen eBook-Shop als auch eine browserbasierte Lese-Umgebung zu realisieren. Der Schwerpunkt der Umsetzung liegt dabei auf:
- Datenschutz, Privatsphäre und Souveränität: Der Nutzer hat die volle Entscheidung über Speicherung seiner Daten und soll hier gekaufte Inhalte beliebig auch außerhalb von log.os nutzen können.
- Usability und Funktionalität soll auch im browserbasierten Ansatz auf demselben Niveau realisiert werden, wie in den großen eBook-Ökosystemen.
- Community-Integration: Ergänzung durch soziale Funktionen wie Lesergruppen und Empfehlungs-Mechanismen.
Sobooks
Schon länger auf dem deutschen Markt ist Sobooks mit seiner Mischung aus Leseplattform und sozialem Netzwerk:
- Zentrales Feature ist die parallele Darstellung von eBook-Inhalten und Kommentaren bzw. Diskussionen der Leser. Das Buch wird so durch einen „social stream“ ergänzt, aus dem ein eigenständiger Mehrwert entsteht.
- Inhalte können bis auf Wortebene hinunter markiert, annotiert, geteilt und verlinkt werden. eBook-Content in Sobooks ist komplett durch Suchmaschinen crawlbar, aber dennoch gegen Scraping geschützt.
- Anstelle der sonst üblichen Top-Charts treten sogenannte „Heatmaps“ als Hitlisten nach Kommentar-Intensität im Titel; daneben ist ein EPUB-Download für ausgewählte eBooks realisiert worden.
Vom Monetarisierungsmodell her ist Sobooks als eine vollwertige eBook-Shop-Plattform anzusehen. Sobooks ist neben der eigenen Online-Community vor allem durch die Kooperationen mit FAZ und Lufthansa bekannt geworden.
Sind die Leser bereit für den Browser als Leseumgebung?
Eine Einschränkung des Buchs als Web-Applikation ist natürlich, dass der Nutzer zum Lesen im Browser bzw. zum Laden der Inhalte erst einmal auf eine Online-Verbindung angewiesen ist – bei der Netz-Situation in Deutschland kein geringer Nachteil. Grundsätzlich ist lokales Caching von Buchinhalten oder gar der Aufbau einer lokalen eBook-Bibliothek für eine Offline-Funktionalität zwar technisch möglich. Dies bedarf aber einiger zusätzlicher technischer Vorkehrungen: Unter dem Schlagwort „Service Workers“ werden dazu aktuell im W3C eine Reihe von Spezifikationen geschaffen, die genau das in Zukunft als Standard-Funktionalität realisieren sollen.
Die wesentliche Herausforderung ist daneben das gelernte Kauf- und Marktverhalten und die Kunden-Akzeptanz für den Kauf eines Online-Zugangs zu Buch-Inhalten: Im eBook-Markt hat es einige Jahre gedauert, Kunden daran zu gewöhnen, wie eBook-Shops aufgebaut sind und wie das ganze Zusammenspiel von Kaufprozess, eBook-Bibliothek, Lese-Applikationen und Reader-Hardware in einem eBook-Ökosystem funktioniert. Hier jetzt noch einmal ein komplett neues Marktverhalten zu etablieren, wird sicher kein einfacher Prozess sein. Daneben ist es sicher notwendig, mindestens dasselbe Niveau an Komfort und nachvollziehbaren Kaufmechanismen zu gewährleisten, wie das aktuell beim eBook-Kauf in einem der großen Shops gegeben ist. Wenn es für den Kunden in Bezug auf Usability und Prozess-Sicherheit am Ende egal ist, ob er eine eBook-Datei oder den Zugriff zu einer Web-Applikation erwirbt (und es im besten Fall identisch funktioniert), kann hier sicher einiges für die Akzeptanz dieses Modells getan werden.
Nicht zuletzt wird aber auch der Faktor der vielen eInk-Reader im Markt eine Rolle spielen: „Books in browsers“ werden auf den allen Endgeräten funktionieren, auf denen ein Browser verfügbar ist – auf den meisten eInk-Geräten aber eben nicht. Gerade in Deutschland gibt es eine große Zielgruppe von Lesern, die diese Endgeräte über die letzten Jahre schätzen gelernt haben. Schon deswegen ist es wahrscheinlich, dass sich Bücher im Browser mittelfristig eher als Alternative zum EPUB entwickeln werden, als diese komplett abzulösen.
Zukunftsperspektiven für Bücher im Browser
Das Modell „Bücher im Browser“ kann insbesondere dort seine Stärken ausspielen, wo sich dadurch Darstellung und Funktionen realisieren lassen, die mit statischen Container-Formaten wie EPUB technisch nicht möglich sind. Diese Möglichkeiten bieten enormes Potenzial für innovative Medienformate. Allerdings ist zu vermuten, dass dieses Modell nicht unbedingt das Publishing in EPUB ablösen wird – es könnte sich aber als attraktiver, zusätzlicher Implementierungs- und Publikationsweg für spezielle Anwendungsszenarien etablieren.
„Books can learn from the web to be bounded, but open.
The web can learn from books to be open, but bounded.“
Hugh McGuire (Gründer und Entwickler des Online- und eBook-Publishing-Systems PressBooks)
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Zu den Fallbeispielen für Books-in-browsers-Modelle betreibt der französische Web-Entwickler Antoine Fauchié eine laufend aktualisierte Liste mit Projekten und Links auf Github. Zu den inzwischen entwickelten Konzepten für Books-in-browser-Modelle ist beim W3C das außerordentlich lesenswerte Papier „Web Publications for the Open Web Platform: Vision And Technical Challenges“ entstanden. Zum Zusammenschluß von IDPF und W3C hat Felix Sasaki vom W3C im April ein lesenswertes Interview im Buchreport gegeben. Und auf der Jahrestagung der IG Digital im Börsenverein des Deutschen Buchhandels organisiert die Peergroup „Produktion“ einen Vortrag von Georg Rehm, Mitglied im W3C, zum Thema „EPUB, quo vadis? ePublishing im W3C“. Thematisiert werden hier sowohl die technischen und konzeptionellen Weiterentwicklungen der Publishing-Formate, als auch die Organisationsform und Arbeitsgruppen des W3C im Bereich Publishing und die Beteiligungsmöglichkeiten für die deutsche Buchbranche.
Dieser Artikel wurde zuerst publiziert in der März-Ausgabe des Buchreport bzw. im Premium-Bereich von Buchreport Online – ich bedanke mich an dieser Stelle sehr herzlich für die Veröffentlichung und die Möglichkeit zur Zweitveröffentlichung auf meinem Blog.