Anfang April hatte ich das große Vergnügen, bei den Freunden vom astikos Verlag auf ihrem Verlagsevent #astiday einen Vortrag zum Thema „Die grenzenlose Welt des digitalen Lesens“ zu halten. Mit einem Überblick über die aktuelle Entwicklung der Digitalmedien, die vielfältigen Herausforderungen im digitalen Publizieren und einem Blick in die Zukunft habe ich darin eine Art Rundumschlag über den Status Quo versucht. Nachdem hier einige Überlegungen gesammelt sind, die mich schon längere Zeit begleiten, möchte ich die Gelegenheit für eine Zuspitzung meiner aktuellen Sicht auf das digitale Lesen und Verlegen nutzen:
1. In der digitalen Welt ist jeder ein Verleger. Das ist ebenso schön, wie es ein großes Problem ist.
Durch die Werkzeuge zum digitalen Publizieren hat auf der Seite der Content-Produktion eine beispiellose Entgrenzung stattgefunden: Die Tools sind mittlerweile so gut geworden, dass jeder mit hinreichend Kompetenz an ein potenziell weltweites Publikum veröffentlichen kann. Das schafft ideale Voraussetzungen für die Selfpublisher der Welt, aber auch für Indie-Publisher wie Astikos oder die blühende Berliner Digitalbuch-Szene um den Frohmann Verlag, mikrotext und CulturBooks. Im Digitalen findet so eine Demokratisierung des Publizierens statt, die unter der ökonomischen Voraussetzung der Vorfinanzierung von Druckauflagen undenkbar gewesen wäre.
Ein Problem schafft das aber dadurch, dass mit diesem Trend, aber auch zusammen mit der digitalen Backlist-Konversion der Großverlage die Zahl der verfügbaren Inhalte geradezu explodiert. Gleichzeitig hat der Tag auch für den engagiertesten Leser nur 24 Stunden, in denen Verlagsprodukte mit mehr anderen digitalen Medien in Konkurrenz stehen als jemals vorher. Dazu ist der Markt für Verlagsprodukte in Deutschland von der Nachfrage-Seite her zwar weitgehend stabil – aber eben auch nicht mehr als stabil. Die Auswirkungen zusammen mit einem sprunghaften Anstieg des Angebots kann sich jeder ausrechnen.
2. Jede Print-Medienform bekommt ihren digitalen Zwilling. Mit mehr oder weniger Erfolg.
Über die letzten Jahre hat sich für nahezu jedes Genre an Printmedien ein digitales Äquivalent entwickelt: Zum Buch das eBook/enhanced eBook, zu den Zeitschriften die eMagazines, zu Zeitungen die News-Portale, zu Fachbüchern, Fachzeitschriften und Loseblattwerken die Online-Datenbanken, dazu kommen Mobile Apps, Service-Portale, digitale Lernplattformen und vieles mehr. Dabei haben zwei digitale Medienformen den mit Abstand größten Erfolg im Markt: das simple, textorientierte eBook in der 1:1-Umsetzung vom Print – und auf der anderen Seite die hochpreisigen Online-Datenbanken von Fachverlagen aus den Bereichen Recht, Wirtschaft, Steuern, Medizin.
Und obwohl die Inhalte, die Zielgruppen und die Nutzung so verschieden sind, wie nur irgendwie denkbar, liegt das aus meiner Sicht an denselben Faktoren: Der Zugang zu diesen Medien ist relativ einfach (über allgemein verbreitete Technologien mit wenig Zugangshindernissen). Die Nutzenfaktoren sind klar bekannt und kommunizierbar (Mobilität und Preis beim eBook, Zugang und Funktionen bei der Fachdatenbank). Und die Preis-/Angebotsmodelle sind fast 1:1 aus der analogen Welt übernommen (wenn auch meist verbilligt) und deswegen im Markt schnell gelernt worden. Alle anderen Digitalmedien-Formen haben dagegen ein mehr oder weniger großes Problem mit ihrer Akzeptanz bei den Nutzern im Markt. Und daran müssen sie dringend arbeiten, wenn sie bestehen wollen.
3. Die Nutzer sind schon weit mehr im Digitalen angekommen als die Anbieter.
Betrachtet man Studien zum digitalen Lesen wie beispielsweise die eBook-Studie der BITKOM, so sind daran nicht nur die reinen Nutzerzahlen interessant, sondern vielmehr, wie sehr sich die Nutzung quer über alle verschiedenen Gerätetypen verteilt. Die digitalen Leser nutzen Inhalte offenbar ganz flexibel je nach Lebenssituation auf anderen Geräten und passen ihre Nutzung sehr dynamisch an. Und wenn interessanter Content auf einem gerade gewünschten Kanal nicht verfügbar ist, suchen und finden sie Alternativen. Ohne Loyalität zu einem bestimmten Anbieter oder Medientyp.
Diese Erkenntnis, dass man mit seinen Inhalten überall da sein muss, wo die Nutzer sind, ist bisher noch nicht in der Breite bei den Verlagsanbietern angekommen. In gewisser Weise zeigt die Abstimmung mit den Füßen, dass die Leser inzwischen mehr Medienkompetenz haben als die Content-Produzenten. Und diese Wendung hin zum Bedarf des Kunden ist wahrscheinlich der fundamentalste Paradigmen-Wechsel, der jeden in der Online-Welt erfolgreichen Anbieter ausmacht – sich hier eine Scheibe bei den großen digitalen Ökosystem-Anbietern abzuschneiden, wäre eine gute Idee.
4. Digital Publizieren ist schön und gut. Aber wir brauchen einfach bessere Werkzeuge.
Ja, wir haben es als Buchbranche über die letzten Jahre hinbekommen, unseren Bestand weitgehend auch digital anzubieten. Aber halt nur so irgendwie. Während die Features und Funktionen auf der Seite der Produktions-Werkzeuge für eBooks inzwischen einigermaßen vernüftig sind, ist der technische Stand von eReadern und EPUB-Applikationen einfach eine Katastrophe, die jeder Beschreibung spottet. Wenn selbst Aufgaben wie ein halbwegs vernünftiger Umgang mit Bildern im Layout so abstrus kompliziert sind, dass das kaum jemand versucht und man in anspruchvolleren Projekten den wesentlichen Teil seiner Zeit mit Test und Qualitätssicherung verbringt, ist klar, dass sich die handwerkliche Qualität der Publikationen meist in überschaubaren Grenzen hält.
Auch auf der Nutzer-Seite sind Mechanismen wie eBook-DRM trotz erfreulicher Veränderungen immer noch weit verbreitet – und Prozesse beim Zugang zum eBook, deren Usability einfach nicht tolerierbar sind, sind die Regel. Hier muss sich noch einiges tun in den nächsten Jahren bei den Werkzeugen und Prozessen, wenn man konkurrenzfähig bleiben will – gerade gegen die großen Anbieter, die Usability immer schon besser hinbekommen haben. In der Browser-Welt geht dagegen die Entwicklung aktuell so rasend schnell vorwärts, dass ich die akute Gefahr einer Technologie sehe, die das eBook „rechts überholt“, einfach weil es technisch so relativ leicht ist.
5. Das Print-Buch wird es immer geben. Aber schlechte Bücher werden ein Problem bekommen.
Der Untergang des gedruckten Buchs war meiner Meinung nach immer schon ein Scheinargument der Feuilletons, das in der digitalen Welt in dieser Form so nie jemand behauptet hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass es das hochwertige Print-Buch immer geben wird. Zum einen, weil es einfach ein menschliches Grundbedürfnis ist, sich mit schönen Gebrauchs-Gegenstände zu umgeben. Aber auch, weil es Funktionen für einen Menschen gibt, die eine reine Textdatei schlecht ersetzen kann – zum Beispiel einen Habitus oder Lebensstil zu demonstrieren (wie wir im Kochbuch-Markt der letzten Jahre feststellen). Und die Verlage tun gut daran, der Ästhetik und Haptik des Buchs wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken: hochwertige Ausstattung und handwerklich exzellentes Layout sind eben auch Differenzierungmerkmale eines Premium-Produktes gegenüber reinen „Content-Dateien“.
Schwierig wird es für alle Bücher werden, bei denen mittlerweile andere Medienformen einfach eine bessere Antwort auf das Problem des Nutzers bieten: Für viele Bereiche der berufsbezogenen Information machen Inhalte nur noch dann einen Sinn, wenn sie online zugreifbar und intelligent mit den Fachanwendungen der jeweiligen Branche verknüpft sind. Jede Art der Information, die komplexe Visualisierung von Tätigkeiten in der realen Welt erfordert (Musikinstrumente lernen, Sport, handwerkliche Tätigkeiten/Hobbies, DYI, Mode, Gaming), ist letztlich besser in Video-Guides und anderen visuellen Medien aufgehoben. Und nicht zuletzt gibt es die vielen Fachthemen-Bereiche, in denen sich die Berufsrealität so schnell verändert, dass das Warten auf eine Druckauflage einfach keinen Sinn mehr für die meisten Nutzer ergibt.
6. Angst vor Digitalmedien ist ein weitgehend europäisches Phänomen.
Wie ich bei meinen Reisen der letzten Jahren feststellen durfte, ist die eher skeptisch/kritische Diskussion über Digitalmedien ein Phänomen, dass außerhalb von Deutschland und Europa kaum stattfindet. Egal ob man nach Afrika schaut, nach Asien oder nach Indien: Fast überall sonst auf der Welt steht man Online-Medien offen und aufgeschlossen gegenüber. In Afrika verändert der Zugang nicht nur Lesen und Bildung, sondern transformiert auch lokale Ökonomien auf noch vor 10 Jahren undenkbare Art und Weise. In Indien entwickelt sich ein Markt, in dem Digitalmedien die Hoffnung geben, endlich die unendlichen logistischen Probleme des Landes zu bewälten und breiten Zugang zu Information und Lernangeboten zu schaffen.
Gleichzeitig tut sich das deutsche Bildungswesen in noch nie dagewesener Weise schwer damit, seinen „Kunden“ das notwendige Wissen und die digitale Medienkompetenz zu vermitteln, die meiner Meinung nach in absehbarer Zukunft so entscheidend für gesellschaftliche Teilhabe sein werden, wie es vor 100 Jahren Lesen und Schreiben waren. Ganz aktuell ist dazu ein hervorragender Artikel von Torsten Larbig erschienen, aus dem ich zitieren möchte:
Eine solche Zufälligkeit dessen, was man in und zu diesen Prozessen der Digitalisierung lernt, kann sich ein allgemein bildendes Schulsystem in Zeiten eines tiefgreifenden, revolutionären Veränderungsprozess in einem wohlhabenden Land allerdings nicht leisten, wenn das Land im Rahmen der Digitalisierung weiterhin eine relevante Rolle im internationalen Kontext spielen will.
Die grenzenlose Welt des digitalen Lesens
Wer Lust hat, sich den Vortrag im Original anzusehen, findet ihn mittlerweile hier auf dem Youtube-Channel von Astikos in voller Länge:
Viel Spaß!