Erkenntnisse an der „digitalen Schnittstelle“: ein Barcamp zum Digitalen Publizieren

IMG_0307Am 24.09.2015 hatten der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zusammen mit der Süddeutschen Zeitung und Microsoft zu einem Tag des Austauschs von Verlagsleuten, Publishing-Startups, Bloggern, Software-Anbietern, Autoren und Fachleuten im Digitalen Publizieren geladen. In der Arbeitskonferenz „Digitale Schnittstellen“ nach dem Barcamp-Prinzip wollten die 30 Besucher zunächst „ihre eigene Ratlosigkeit vernetzen“, wie es in der Einladung hieß. Das Besondere: die gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse sollen nicht nur festgehalten, sondern über ein ganzes Jahr hinweg in mehreren Stationen weiter bearbeitet werden. Über einen längeren Zeitraum soll so beobachten werden, wie sich die Ideen-Entwicklung auch in der Praxis operationalisieren lässt.

Schon die Vorstellungsrunde und die Thesen der Protagonisten zur Entwicklung von Schreiben, Lesen und Publizieren im Digitalen zeigte deutlich, dass die „Vernetzung der Ratlosigkeit“ eine ausgesprochen treffende Metapher war: Unglaublich breit waren die Ansätze der Teilnehmer aus den verschiedensten Branchenbereichen gestreut und schnell wurde in der Diskussion klar, dass es keinen Bereich der Buchbranche gibt, der nicht vor tiefgreifenden Veränderungen und grundlegenden Einschnitten steht.

IMG_0302Für die Workshops am Nachmittag kristallisierten sich im Laufe der Diskussion folgende vier Themen heraus, die die ganze Bandbreite der Problemstellungen abbilden dürften:

  • Autoren-Tools zum digitalen Schreiben
  • Wie wird das digitale Lesen in fünf Jahren aussehen?
  • Die Rolle des Verlages im neuen Ökosystem: Was sollte ein Verlag tun? Was sollte er lassen?
  • Wie können Verlage Metadaten besser für die Vermarktung ihrer Produkte verwenden?

Die Diskussionen in den Workshop-Gruppen waren geprägt von intensiver und leidenschaftlicher Auseinandersetzung der Beteiligten – und wurden schon während der Veranstaltung durch Visual Recording hervorragend in Szene gesetzt.

Rauchende Köpfe im Workshop

IMG_0314Im Workshop zur Rolle des Verlags drehte sich vieles um die Erkenntnis, dass die Verlage sowohl ihre eigenen Baustellen kennen sollten, als auch die ihrer Kunden. Kein Wunder, denn eine zentrale Erfahrung aller erfolgreichen Digital-Modelle ist es, dass sie sich direkt am Kundenbedürfnis ausrichten müssen. In der Diskussion zeigte sich aber auch, wie schwierig es bei dieser Frage ist, noch Strategien zu entwickeln, die von Fachverlagen und Publikumsverlagen gleichermaßen erfolgreich anwendbar sind – zu unterschiedlich sind die Publikationstypen und zu verschieden der Marktzugang. Fachverlage haben es an diesem Punkt sicherlich leichter – die Zeit hat für mehr Erfahrung im digitalen Publizieren gesorgt, und die Bedürfnisse von Fach- und Berufszielgruppen sind letztlich auch deutlich leichter fassbar.

 

Autoren-Tools zum digitalen Schreiben

IMG_8785Die Arbeitsgruppe zum Schreiben im Digitalen deckte mit ihrer Wunschliste für die Tools von morgen so ziemlich alles an Themen ab, was noch nicht von der verfügbaren Infrastruktur abdeckt wird: von transparenter, aber unaufdringlicher Versionierung über eine vernünftig handhabbare Markup-Steuerung bis hin zu kollaborativen Funktionen, die dann aber auch die komplette Tiefe der Rollen- und Rechte-Steuerung erfordern, wie sie aus modernen Content-Management-Systemen bekannt ist. Zentrale Erkenntnis für mich aus diesem Thema: Da ich sonst eher mit den Publishing-Systemen als mit den Autorentools zu tun habe, hatte ich irgendwie angenommen, die Werkzeuge in diesem Bereich seien inzwischen besser geworden – dem scheint aber eher nicht so zu sein, wahrscheinlich ist die Situation hier eher noch schlimmer.

Die Rolle des Verlages im neuen Ökosystem

IMG_0323Im Ergebnis hatte der Workshop zur Rolle des Verlags folgende Do’s und Dont’s zu bieten:

Das sollte ein Verlag in Zukunft tun…

  • Kenne die Nutzungsumgebung deiner Zielgruppe: Wo werden Inhalte genutzt, in welchen Situationen und auf welchen Geräten? Je nach Nutzungsumgebung sind andere Formate, Stile, redaktionelle Aufbereitungen für den Content nötig.
  • Sorge für Feedbackmöglichkeiten: Gute Digital-Produkte haben Schnittstellen zum Kunden und Rückkanäle zum Verlag eingebaut, und stiften zum Dialog an. Erst so erfährt man, wie das Produkt beim Kunden wirklich ankommt.
  • Kenne das Nutzungsverhalten: Erst wenn man das Leseverhalten bzw. die Arbeitsweise des Kunden kennt, kann man über den reinen Text hinaus Funktionalitäten und Content-Erschließung entwickelt, die im Digitalen echte Mehrwerte bringt.
  • Beziehe den Autor in die Konzeption der gesamten Produktpalette ein: Nicht nur für das Manuskript, auch für alternative Produktformen und die Vermarktung haben Autoren in der Regel tolle Ideen – wenn man sie lässt, und nicht auf die Rolle des Manuskript-Lieferanten reduziert.
  • Schaffe dem Autor eine klare Infrastruktur: Der Verlag sollte hier zum Plattform- und Service-Anbieter für die Autoren werden – und sich nicht mehr nur auf die Rolle der Manuskript-Verarbeitung zurückziehen.
  • Schaffe eine transparente Rechte- und Honorarverwaltung: In der Praxis ein riesiges Problem vieler Verlage, vor allem, weil sich analoge Autoren-Verträge oft schlecht ins Digitale übersetzen lassen, ohne dass unverständliche Paragraphen-Monster dabei herauskommen.

…und das sollte er lassen:

  • Medienneutralität ist keine Strategie, „XML first“ auch nicht: Natürlich führt um XML kein Weg vorbei, je fachlicher und semantischer strukturiert Verlagscontent ist. Aber die letzten Jahre haben deutlich gezeigt, dass Inhalte nur sehr schwer vom konkreten Endmedium abstrahiert werden können – vor allem wenn man die Eigenschaften des Mediums nur unzureichend kennt und komplexe Content-Strukturen umzusetzen hat.
  • Denk nicht nur in Büchern und Buchkalkulationen: Das Mindset prägt eben auch die Produktwelt. Und je mehr man sich angewöhnt, digitale Modelle eben auch anders zu kalkulieren, umso mehr können Ideen für neue Strategien entwickelt werden.
  • Vergiss nicht die Metadatenstrategie: Siehe unten. Ohne Metadaten keine Sichtbarkeit im Netz.
  • Don’t prototype without a process: Prototypen-Entwicklung ist unbedingt nötig für die ersten Schritte im Digitalen. Aber ohne einen klaren Prozess, mit dem die Erkenntnisse aus dieser Phase auch für die weitere Entwicklung genutzt werden können, wird man vor allem viel Geld verbrennen und wenig weiterkommen.

Wie wird das digitale Lesen in fünf Jahren aussehen?

IMG_0319Die hier versammelten Fachleute haben ihrer Fantasie freien Lauf gelassen und munter in die Zukunft projiziert, was jetzt schon an Bedürfnissen und technischen Ansätzen vorhanden ist: erhöhte Nutzung der Vernetzungsmöglichkeiten von Texten, Individualisierung von Lese-Erlebnissen für verschiedene Zielgruppen, Situationen oder soziale Bedürfnisse, Automatisierung von Texterstellung und Anpassung oder auch das Lesen als „Second Screen“ waren hier zentrale Ideen. Spannend ist dabei die Feststellung, dass fast keiner der Ansätze bisher von den großen Plattformen für digitales Lesen auch nur ansatzweise abgedeckt – für die Zukunft ist hier also noch viel Luft nach oben, die nicht nur von den großen Playern gefüllt werden muss.

Schönste persönliche Erkenntnis: Mit „spoilerfreier Appendix“ ein mit komplett neues Konzept kennengelernt, das in Zukunft möglich werden könnte (Übersetzung: Wenn man ein „Game of Thrones“-Glossar braucht, um die Handlung noch zu verstehen – aber nicht schon in der dritten Staffel erfahren will, dass jemand in der fünften Staffel tot ist).

Wie können Verlage Metadaten besser nutzen?

IMG_8786Die Erkenntnisse des Workshops zu Metadaten:

  • Ein erweitertes Metadatenset ist nötig: Nicht nur ein einfacher Satz an Warengruppen, Keywords oder THEMA-Klassifikationen kann für bessere Verwertungsmöglichkeiten sorgen. Eine sehr viel klarere Vorstellung, wo sich Kunden im Netz wie bewegen, nach was sie dort suchen, und wie sie anzusprechen sind, muss für das Metadaten-Sammeln entwickelt werden. Auch nutzergenerierte Metadaten werden in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen.
  • Metadaten sind kaum nutzbar ohne Personas: Alle Klassifikationen von Content können zunächst nur Rohmaterial sein, dass auf ein konkretes Bild vom Kunden bezogen werden muss, um für operationalisierbare Strategien verwendbar zu sein. Erst über eine Methode wie das Persona-Modell, die klar macht, welche Fragestellungen überhaupt sinnvoll sind, können Metadaten auch erfolgreich angewandt werden.
  • Erst mit den Touchpoints wird eine Strategie daraus: Für jede Kundengruppe muss definiert werden, wo die Berührungspunkte mit dem Verlag im Netz sind. Kennt man diese Touchpoints und auch die Medienformate, die dort notwendig sind, lassen sich die Tools und Prozesse zur erfolgreichen Nutzung von Metadaten entwickeln.

Insgesamt hatten alle Workshops wirklich spannende Ergebnisse zu bieten – und wieder einmal zeigt sich das große Potenzial von offenen, interaktiven Formaten wie dem Barcamp für das digitale Publizieren. Dennoch viel auf, wie deutlich besser greifbar und praktisch umsetzbar die Diskussionsergebnisse wurden, je spezifischer die Fragestellung und der Kreis der Interessenten war.

Was kommt nach dem Barcamp?

Der Livestream des Tages lässt sich noch über Twitter unter dem Hashtag #schnittstellen1 nachverfolgen, dazu hat Kathrin Passig einen tollen Liveblog der Veranstaltung auf Google Docs veröffentlicht, der mittlerweile an vielen Stellen um Kommentare ergänzt wurde.

Die Ergebnisse des Barcamps werden zur folgenden Gelegenheiten vorgestellt und weiter ausgearbeitet:

  • Auf der Frankfurter Buchmesse im Orbanism Space, Halle 4.1, B73, 15. Oktober,10 bis 11 Uhr und 17 bis 17.30 Uhr
  • Bei der digital*litera* am 27. Januar 2016 in Berlin
  • Beim Kongress future!publish am 28./29. Januar 2016 in Berlin.

Im September 2016 ist dann als Abschluß der Veranstaltungsreihe ein zweites Barcamp zum Thema geplant, Gastgeber ist dann Microsoft in Berlin.

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